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„Patientensicherheit mit dem Fortschritt der Medizin entwickeln“: Interview mit Prof. Dr. Rainer Haseneder

Im September 2021 startet ein neues Zertifikatsprogramm am TUM Institute for LifeLong Learning: „Fokus Patientensicherheit – Veränderungen aktiv gestalten.“ Im Interview erklärt Prof. Dr. Rainer Haseneder, der Teil des Entwicklungsteams des Programms ist, was es mit dem „Faktor Mensch“ auf sich hat, wie Covid-19 die Relevanz des Themas beeinflusst hat und warum die Übertragung von Konzepten aus der Luftfahrt in den medizinischen Kontext besonders sinnvoll sein kann.

 

Herr Dr. Haseneder, warum ist das Thema „Patientensicherheit“ so relevant wie nie?

Patientensicherheit hat in den letzten Jahren in Deutschland zwar deutlich an Bedeutung gewonnen, bei der Umsetzung gibt es aber immer noch Luft nach oben. Wünschenswert wäre zum Beispiel die Etablierung einer umfassenden, tief verankerten Patientensicherheitskultur in der jeweiligen Organisation. Und Patientensicherheit muss mit dem Fortschritt der Medizin weiterentwickelt werden. So werden die Behandlungsmöglichkeiten immer vielfältiger und komplexer, was prinzipiell natürlich gut ist. Die heutigen hochtechnisierten Prozeduren und komplexen Prozesse jedoch sind fehleranfälliger als weniger komplexe medizinische Eingriffe, und diesen Veränderungen muss auch im Hinblick auf Patientensicherheit Rechnung getragen werden.

Wie hat die Corona-Pandemie aus Ihrer Sicht das Thema beeinflusst?

Die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie wichtig das Vertrauen der Patient*innen in eine sichere medizinische Versorgung ist. So kamen während der ersten Welle deutlich weniger erkrankte Nicht-Covid-Patienten in die Notaufnahmen, teils trotz schwerwiegender Krankheitsbilder, weil sie Angst vor Ansteckung hatten. Des Weiteren wird deutlich, welch essenzielle Rolle Mitarbeiter*innen ausfüllen. Sie gilt es besonders zu schützen: Jede Maßnahme, die die Sicherheit von Patient*innen erhöht, erhöht auch die Sicherheit der Mitarbeiter*innen im Gesundheitssystem: Durch Schadensvermeidung sinkt die Gefahr, dass sie zu „second victims“ werden und bspw. unter psychischen Belastungen leiden.

Im Zentrum des neuen Programms steht der „Faktor Mensch“ – was ist damit gemeint?

Unter „Faktor Mensch“ bzw. „Human factors“ sind alle Eigenschaften von Menschen – physische, psychische, kognitive, soziale – zu verstehen, welche die menschliche Interaktion mit der Umwelt und mit sozialen oder technischen Systemen beeinflussen. Es ist nachgewiesen, dass ein Großteil der Fehler, die zu einem Patientenschaden führen, durch Probleme bei den „Human factors“ entstehen. Fehler in der Technik oder mangelnder medizinischer Fachlichkeit spielen eine untergeordnete Rolle. Dementsprechend liegt es nahe, dass die größten Verbesserungen bei der Patientensicherheit durch Optimierungen in diesem Bereich erzielt werden können.

Sie sprechen von einem Perspektivwechsel, hin zum vorausschauenden Umgang mit Risiken. Warum ist dieser im medizinischen Bereich so wichtig?

Bisherige Ansätze im Bereich Patientensicherheit sind vor allem geprägt vom Reagieren auf Fehler, um diese künftig zu vermeiden. Es geht beim Thema Patientensicherheit aber um weit mehr als nur die Vermeidung von Fehlern und bestimmten Komplikationen. Patientensicherheit muss vielmehr als inhärente Eigenschaft von Teams und Organisationen verstanden werden. Nur so können Risiken rechtzeitig und vorausschauend identifiziert werden, bevor sie zu einem Fehler bzw. Schaden führen.

Im Kurs werden bspw. Konzepte aus der Luftfahrt vorgestellt und auf den medizinischen Bereich übertragen. Wie können wir uns das vorstellen?

In der Luftfahrt als sogenannter „Hochzuverlässigkeitsorganisation“ sind seit Jahrzehnten Prozesse etabliert, die das System sicherer machen, bspw. Checklisten und Simulationstraining. Die Sinnhaftigkeit solcher Maßnahmen zur Erhöhung der Patientensicherheit ist in der Medizin zwar angekommen, jedoch sind diese noch nicht auf breiter Ebene etabliert. Außerdem lassen sich nicht alle Sicherheitskonzepte und -prozesse von direkt auf die Medizin übertragen. Patient*innen werden immer individuell behandelt. Im Zertifikatsprogramm lernen die Teilnehmenden verschiedene Konzepte kennen, und welche Adaptionen notwendig sind, um diese erfolgreich zu übertragen.

Wem würden Sie den Zertifikatskurs empfehlen?

Der Zertifikatskurs befähigt die Teilnehmenden als Entscheidungsträger oder Multiplikatoren in ihrer Heimatorganisation Patientensicherheitsprojekte anzustoßen, zu etablieren und nachhaltig zu verankern. Insofern ist das Zertifikat für alle Mitarbeiter*innen im Gesundheitswesen zu empfehlen, die sich jetzt oder künftig mit einer solchen Aufgabe betraut sehen.

Weitere Informationen zum Zertifikatsprogramm erhalten Sie hier.

 

Prof. Dr. med. Rainer Haseneder ist seit 2002 an der Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin der TU München tätig, seit 2012 als Oberarzt. Er hat das Zertifikatsprogramm „Fokus Patientensicherheit“ mit konzeptioniert und wird als Dozent auftreten.

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